Im Stadthafen von Schleswig ist es nicht sofort auszumachen, das Oldtimerschiff MS Atlas, denn die flache Barkasse liegt etwas unterhalb der Hafenbeckenkante. Um an Bord zu gehen, steigt man eine kleine Treppe hinab. Aber zunächst treffe ich oben an der Pier Kapitän Wolf Mehl und „Schiffssteward“ Rainer. Bevor es mit der Tour über die Schlei losgeht, erfahre ich, dass die MS Atlas dieses Jahr ihre letzte Saison fährt. Wolf Mehl verabschiedet sich nach 32 Jahren nun endgültig in den Ruhestand, jedoch nicht ohne Hoffnung, dass es mit der Schiff-Sightseeing-Tour auch ohne ihn weitergeht … falls sich ein passender Nachfolger findet.
„Im Prinzip ist diese Tour eine Stadtführung per Schiff“
Die gut einstündige Tour mit der MS Atlas führt bis zur Stexwiger Enge oder auch bis nach Luisenlund und quert dabei wichtige Punkte der Stadt Schleswig. Während die alte Barkasse gemächlich über die Schlei tuckert und Barkassensteward Rainer die Gäste mit kühlen Getränken bewirtet, lausche ich über den Lautsprecher der Stimme des Kapitäns, der im Plauderton Spannendes zur hiesigen Geschichte und Kultur erzählt, während wir daran vorbeifahren.
Die Fahrt beginnt bei der Fischersiedlung Holm, führt am Kloster und der Freiheit vorbei. Heute geht es nur bis zur Stexwiger Enge und dann drehen wir über Fahrdorf und Wikingerdorf Haithabu zurück in Richtung Friedrichsberg, passieren den Wikingturm und umrunden die Möweninsel, bevor es Richtung Innenstadt an Schloss Gottorf und Petri Dom vorbei, zurück zum Stadthafen geht.
„Bei einer Busrundfahrt durch Schleswig würden meine Gäste die Stadt aus einer anderen Perspektive sehen, aber was sie erfahren, ist das Gleiche wie bei der Stadtführung hier auf der MS Atlas“
Wolf Mehl lässt geschichtliche Ereignisse und Aktuelles unterhaltsam ineinanderfließen, zeigt Zusammenhänge auf. Zwischendurch ergänzt er alles noch um heitere Anekdoten, die eben nur Insider wissen können und legt sogar noch ein wenig „Boulevard“ drauf – und eben diese Mischung ist es, die bei seinen Gästen auf der MS Atlas so gut ankommt.
Während wir die Möweninsel umrunden, erfahre ich, dass mit dem Bau der Jürgensburg auf dieser Insel, die eigentliche Stadtgründung begann. Die Möwen brüteten hier schon immer und bis 1989 wurden ihre Eier in Geschäften und Restaurants als Delikatesse verkauft.
Wir passieren das Kloster St. Johannis, ein ehemaliges Benediktinerinnenkloster, das ebenfalls reichlich Erzählstoff liefert: Nach der Reformation wurde es zu einem evangelischen Stift für unverheiratete Töchter umgewandelt – und ist es bis heute geblieben. Der ehemalige Kantor des Klosters komponierte hier die Melodie des Schleswig-Holstein-Liedes und in den 1970er Jahren diente das Gebäude als Kulisse für die Fernsehserie „Onkel Bräsig.
Auch vor düsteren Vertellseln scheut Mehl nicht zurück und so berichtet er vom Schicksal eines Stiftsfräulein des Klosters, das sich höchst irdisch-sinnlichen Genüssen hingab und zur Strafe lebendig eingemauert wurde.
Und dann war da auch noch der „Brudermord“ in Missunde – ein Ortsname dessen so gefälliger Wortklang auf so unheilvolle Begriffe wie „Missgunst“ und „Ungnade“ zurückzuführen ist.
In den Erzählpausen bleibt reichlich Zeit um zu fotografieren und die Stadt mal von der Wasserseite aus wirken zu lassen.
Die Fahrt zwischen Schleswig und Stexwiger Enge dauert eine gute Stunde und bis Louisenlund sogar zwei. Vieles hier steht mit den Wikingern in Zusammenhang, wie etwa die Befestigung „Danewerk“ und die Siedlung „Haithabu“, welche einst größtes Handelszentrum im Norden war. Heute ist es ein Museumsdorf. Vergangenes und Gegenwärtiges kommen auf der Schlei bei Schleswig auf überschaubarem Terrain zusammen. Und weil Kapitän Mehl die beliebtesten Fragen seiner Gäste ganz genau kennt, geht er immer wieder gerne auf die „Bausünde“ der frühen 70er Jahre schlechthin ein: den Wikingturm. Dieser hat sich jedoch längst zum heimlichen Wahrzeichen der Stadt gemausert und erfreut sich zum Beispiel bei Feriengästen großer Beliebtheit.
„Während der Nacht der Schleilichter im August ist der Wikingturm ein leuchtender Hingucker, wenn er so weithin sichtbar über die Schlei strahlt“
Und dann dreht er den Unterhaltungswert seiner Stadtführung noch einmal so richtig auf und erzählt von einem der heftigen Winter Mitte der 60er Jahre, als die Schlei so zugefroren war, dass sogar ein Hubschrauber darauf landen konnte.
Noch ein paar Boulevardesken zum Abschluss gefällig?
Der griechische Reeder Aristoteles Onassis testete 1953 ein Tragflächenboot auf der Schlei, Frank Sinatra verbrachte hier einen Kurzurlaub, James-Bond-Darsteller Roger Moore war als Soldat in den Kasernen auf der „Freiheit“ stationiert, Entertainer Hans-Joachim Kulenkampff „Kuli“ ging mit seinem Segelboot in Arnis vor Anker und Schlagersänger Jürgen Drews verbrachte seine Jugend in Schleswig, wo er sein Abitur an der Domschule machte, bevor er zum Medizinstudium nach Kiel ging.
„Nicht, dass diese Fakten nun wichtig wären, um Schleswig besser kennenzulernen, aber vielleicht bleibt die Stadt den Besuchern noch ein bisschen besser in Erinnerung, wenn ich das Wissenswerte mit dem Unterhaltsamen kombiniere.“
Der 77-jährige Kapitän der MS Atlas macht Schluss. Nach drei Jahrzenten Schleischiffahrt – zwölf davon auf der Barkasse MS Atlas – geht er jetzt endgültig von Bord, um sich ganz und gar dem Lebensabend mit seiner Frau zu widmen. Vorher möchte er noch den Stab an jemanden weitergeben, der Lust hat, die Barkasse MS Atlas zusammen mit der Idee einer besonderen Stadtrundfahrt weiterzuführen und vielleicht sogar auszubauen. In dem eleganten Oldtimerschiff, liegen ja noch so viele Ideenschätze, die nur darauf warten, gehoben zu werden – die Barkasse MS Atlas könnte dann ein echtes Schmuckstück für Schleswig bleiben!
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Der Schleikapitän – Filmbeitrag